Donnerstag, 26. Juli 2012

Li Chengpeng: ”Totem“ // 李承鹏:“图腾”

Als plötzlich das grösste Unwetter der letzten 61 Jahre über Peking niederging war ich weit weg, um einen Artikel über die sechs Milliarden zu schreiben, die die Regierung letztes Jahr für ihre Autos ausgegeben hatte. Sehr peinlich, die Hauptstadt des Reiches so durchnässt und doch sieht man nur Privatautos, die rausfahren um zu helfen, keines derer für sechs Milliarden gekauften hinterliess Spuren von Heldentum.

Gerade als eine erneute Kampagne gegen Weibo (chinesisches Twitter Äquivalent) losgetreten wurde, begann Weibo Menschenleben zu retten mit präzisen, geordneten Informationen. Die Menschen sprachen sich ab, alle Rettungswagen waren unterwegs mit Blaulicht, die ganze Stadt war ein pulsierendes Herz. Zu diesem Zeitpunkt war die alte Debatte über die (fehlende) moralische Qualität der Chinesen nur noch schändlich. Wenn man nach Wenchuan (dem Epizentrum des Erdbebens von Sichuan), Yulin (200 vergiftete Schüler wegen schlechter Milch) und dem Crash des Hochgeschwindigkeitszugs und den gestrigen Ereignissen in Peking auf den Hurrikan in New Orleans zurückblickt, sieht man dass die Chinesen hohen ethischen und moralischen Ansprüchen genügen. Aber, die Frage stellt sich: Warum sieht man das nur im Angesicht von Katastrophen? In normalen Zeiten beschimpfen sie sich beim Drängeln im Bus, beim Schlangestehen vor Ticketschaltern gibt es Massenschlägereien, aber zu Katastrophenzeiten sieht man Ritterlichkeit wie vor dem Untergang der Titanic. Meine Kollegen fuhren zur Autobahnbrücke am Guangqi Tor um bei der Rettung mitzuhelfen, kaum war das Auto da schrien die Leute: "Frauen und Kinder zuerst!"

Die Moral der Chinesen wird zu normalen Zeiten von irgendeiner Kraft niedergedrückt. Wenn ein Land nur danach schmachtet, mit öffentlichen Geldern Autos zu kaufen, anstatt Busse für die Öffentlichkeit, wenn die Leute vom Verkehrsministerium nur Grossprojekte im Sinne der eigenen Karriere durchdrücken wollen anstatt der Öffentlichkeit zu dienen, in solchen Zeiten kann man keine moralischen Ansprüche haben, wenn man sich selber schützen will. Aber die Menschlichkeit ist da, wie eine Perle in der Finsternis leuchtet sie wenn es wirklich zählt. Nun wissen es alle: Der alte Mann der im Abwasserkanal lag, um den Abfluss freizumachen, die Stadtarbeiter, die vor dem Gully ohne Deckel wachten, die Jungs die mit Brot und Mineralwasserflaschen losgingen um eingeschlossene zu suchen, die Männer, die extrem vorsichtig werden, wenn sie ein klicken in der Leitung hören* und die nun ihre Handynummern und ihre Adresse veröffentlichen um Essen, Unterkunft und eine heisse Dusche anzubieten... Ich möchte keine pathetischen Ansichten wie "Wir sind alle Chinesen" verbreiten, ich meine vielmehr feststellen, dass der chinesische Bürgersinn wächst. Genau, wer an der Selbstregulierung der Gesellschaft teilhat, wird sich lebendig uns sicher fühlen.

Das ist Zivilisation, ich helfe den anderen und die anderen helfen mir. Ich bewundere den neuen Geist der Pekinger, den Zhao Chu beschrieben hat, aber ich finde nicht, dass es ein Peking vor und eines nach dem Unwetter gibt, es war immer dasselbe Peking. Es gab nur diese Zäsur, die aus einzelnen Menschen eine Gruppe formte. Vor etwa zwei Jahren kochten die Gefühle hoch als Auswärtigen vom Kauf von Wohnungen in Peking ausgeschlossen wurden, die Alteingesessen sahen die Neuankömmlinge am liebsten alle rausgeworfen, die Neuankömmlinge fanden, richtige Pekinger gibt es sowieso nur in Zhoukoudian**. Langsam haben alle begriffen, dass in diesem China jeder, der nicht reich ist, ein Auswärtiger ist, und dass die einzig richtigen Alteingesessenen sowieso in Zhongnanhai*** residieren. Wenn die moderne Kultur durch die Gardinen rieselt, wenn die ganze Stadt zum Meer wird, dann wirkt dieses Konzept von Aussen und Innen plötzlich sehr leer. Gestern Nacht hat mein Freund Yang Fei, ein typischer Sprössling reicher Eltern, bis zum Morgengrauen mit seinem Hummer Leute nach Hause gefahren, hat Wuyue Sanren**** Eingeschlossenen Unterkunft geboten, gestern Abend haben viele Pekinger dazu aufgerufen, den in Peking Gestrandeten, denen die hergekommen waren, um sich wegen in der Heimatstadt erlittenem Unrecht an die Obrigkeit zu wenden, und die nun in ihren unterirdischen Schlägen zu ertrinken drohten zu helfen, gestern Abend hat Li Fanghong, Kommandant eines Polizeipostens, sein Leben geopfert, als er Eingeschlossenen helfen wollte. Der Riss, der die Menschen teilt, war kurz geschlossen, denn so ist die menschliche Natur.

Aber es gibt diese Wunde in der Gesellschaft, man sieht das wenn normale Bürger ihre Türen öffnen, wenn sie es riskieren, dass der Motor ihres eigenen Autos im Brackwasser absäuft, um anderen zu helfen, aber der öffentliche Verkehr wie jeden Abend pünktlich stillsteht, wenn an den Mautstellen weiterhin abkassiert wird und die Autos in der Schlange langsam untergehen, wenn die Leute vom Ordnungsamt, die Strassenhändler sonst gnadenlos verfolgen plötzlich spurlos verschwunden sind. Der Regierung entging völlig, welche Gelegenheit zu einem grossen Auftritt sie verpasste, und hätte sie nur ein paar Zimmer in einem Motel für die Eingeschlossenen geöffnet! Sie haben nicht daran gedacht, so wie sie nicht daran gedacht haben, eine passende Kanalisation aufzubauen, als sie der Stadt eine schöne Fassade verpassten... Sie können nur die Schleusen der Propaganda öffnen, sie wissen nicht, dass die öffentliche Meinung der beste Abwasserkanal ist, fast wie ein Totem, wie Wasser folgt sie dem leichtesten Weg, passt sich allem an, nimmt keinen guten Rat an. Es ist nicht die Stadt, die schlecht ist, sondern die Dinge wurden nicht vollendet, ein Abwasserkanal trennt mich und dich.


Zur Olympiade 2008 sang Liu Huan "Ich und Du", er hatte Recht, wir leben wirklich alle in derselben Welt. Wir leben aber nicht denselben Traum. Die Beamten denken nur daran, im Ausland "Erkundungen" zu machen, einmal die Strasse vor der Tür zu besichtigen, käme ihnen nicht in den Sinn. Der neueste Witz ist: Die Beamten sagen, dass sie seit vorgestern eine Armee zur Frühwarnung vor und Vorbeugen gegen Unglücksfälle in der Stadt zusammengezogen haben. Beim Vorbeugen verloren aber zehn Soldaten ihr Leben, das zeigt wie schwach diese Stadt ist, die wir anhand einer grossen Erzählung aufgebaut haben.


So wie früher muss man diese Geschichte nun anhand der Versatzstücke "Liebe kennt keine Grenzen, in der Katastrophe rücken wir näher zusammen" schönreden. ***** Ich wette, bald kommen Artikel mit Titeln wie "Ein Unwetter bringt die wahren Gefühle der Menschen hervor". Ich finde solche Artikel widerwärtig, das Gewitter hat die Gefühle der Menschen nicht von neuem heraugebracht, sondern es hat die Realität aufgezeigt. Diese ist: Eine Stadt, die nicht einmal eine Kanalisation bauen kann wird nie auf der Überholspur fahren, und wenn ein ganzes Land keine richtigen Abflüsse bauen kann, dann weiss man, warum der Volkszorn im Versteckten brodelt.


Okay, Ich schreibe nur bis hierhin, ich fahre zum Flughafen und fliege in den Süden. Ich halte keine Rede, schreibe keinen Artikel. Ich zünde nur eine Kerze zum Gedenken an.

* weil sie eine Nebenfrau haben.
** Fundstelle des Peking-Steinzeitmenschen
*** Pekinger Regierungssitz
**** Schriftsteller
***** Tatsächlich orderte die Regierung die Medien, diese Aspekte der Geschichte zu betonen, siehe hier.

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